Wie bei fast allen Menschen hat die Corona-Pandemie auch bei Harold James Arbeit und Tagesablauf komplett umgekrempelt. Der berühmte Wirtschaftshistoriker arbeitet jetzt hauptsächlich zu Hause. New Jersey, der Bundesstaat, in dem James’ Princeton University liegt, ist nicht weit von New York entfernt, einem der Hotspots der Seuche in den USA. Für das Videotelefonat allerdings ist James nun doch in sein Büro an der Uni gekommen: Das WLAN zu Hause funktioniert nicht. „Das ganze Gebäude ist komplett leer“, sagt James.
Der britische Wirtschaftshistoriker arbeitet seit 1986 an der renommierten Princeton University in den USA. Die Spezialgebiete des 64-Jährigen sind deutsche und europäische Geschichte sowie internationale Beziehungen. In seinen neueren Veröffentlichungen beschäftigt er sich auch mit den Folgen der Globalisierung und der Frage, welche Staaten damit am besten zurechtkommen. James gilt als einer der bedeutendsten Vertreter seines Fachs.
Capital: Herr Professor, wenn keiner mehr an der Uni ist – wie tauschen Sie sich jetzt aus?
HAROLD JAMES: Wir machen Videokonferenzen, über Zoom. Vorher kannte das kaum jemand. Nun nutzt es jeder.
Das sind ja eher kleine Veränderungen, aber wir haben alle das Gefühl, eine historisch beispiellose Krise zu erleben. Lassen sich die Corona-Pandemie und ihre Folgen trotzdem mit einem Ereignis in der Vergangenheit vergleichen?
![BILD Die neue Capital](https://image.capital.de/31046052/t/n5/v1/w960/r0/-/capital-0520-cover-jpg.jpg)
Große Epidemien haben meist auch gravierende ökonomische Folgen. Aber die unterscheiden sich stark. Als Vergleich werden oft die Pest oder die Spanische Grippe gegen Ende des Ersten Weltkriegs heran- gezogen. Doch wirklich hilfreich ist das nicht. Die Pest war ungeheuer tödlich, sie kostete in ihrer ersten Welle ungefähr ein Drittel der eu- ropäischen Bevölkerung das Leben. So etwas sagt für das Coronavirus glücklicherweise niemand auch nur annähernd voraus. Die Spanische Grippe wiederum war vor allem für jüngere Menschen im arbeitsfähigen Alter gefährlich, auch das ist beim Coronavirus anders. Es ist daher nicht zu erwarten, dass die aktuelle Pandemie die Struktur der Arbeitsmärkte verändert. Aber natürlich bedeutet sie einen dramatischen Schock für die Weltwirtschaft. Und ich glaube, dass einige Konsequenzen sehr langfristig sein werden.
An welche denken Sie?
Zum Beispiel an die Industrie, von der ich selbst ein Teil bin: Konferenzen, Tagungen, Expertentreffen. Ich glaube, dass den Leuten klar werden wird, dass man das auch ganz gut so machen kann wie wir jetzt – also per Videotelefonat. Es hieß ja in der ersten Phase des Kampfes gegen das Virus, man solle unnötige Reisen unterlassen. Da stellt sich dann die Frage: Warum gab es solche Reisen überhaupt? Hotelketten und Luftfahrtkonzerne werden also einen sehr langfristigen Schaden davontragen, das scheint mir sicher. Am klarsten ist das bei der Kreuzfahrtindustrie. Kaum jemand wird in naher Zukunft mehr solche Reisen antreten wollen.
Sie haben auch die These aufgestellt, dass die Pandemie die Globalisierung zurückwerfen wird. Warum?
So eine Krise schafft ein Bewusstsein dafür, an welchem Punkt man verletzlich ist. Sie legt die Schwachstellen in den Lieferketten bloß. Und es hat sich schon zuvor angedeutet, dass die Hyperglobalisierung zurückgedreht wurde – also sehr weitläufige Lieferketten. Weil die eben anfällig für Störungen sind. Dazu braucht es gar keine Pandemie, es reicht ein extremes Wetterereignis oder ein Erdbeben wie beim Tsunami in Japan. Niemand will in einem solchen Moment abhängig von einem Zulieferer sein, der am anderen Ende der Welt sitzt.
Trotzdem lohnt es sich ja weiterhin für einen Autobauer, Bauteile dort produzieren zu lassen,wo das am günstigsten geht.
Ja, aber es gibt ja bereits neue technische Möglichkeiten. Der 3D- Druck zum Beispiel macht es möglich, individualisierte Produkte wie Autoteile direkt vor Ort herzustellen. Es gab schon lange zuvor ein Onshoring von Produktion. Das wird zunehmen.
Betrifft das auch die Lieferketten für medizinische Produkte?Wir haben ja in der Pandemie mit Schrecken festgestellt, dass viele Medikamente heute vorwiegend in China hergestellt werden.
Es erscheint zunächst einleuchtend, wenn man den derzeitigen Mangel an medizinischer Ausrüstung, an Schutzmasken oder Medikamenten sieht. Aber im Grunde ergibt es wenig Sinn, wenn jetzt jedes Land versucht, eine Breite an Pharmazeutika selbst zu produzieren. Es wird sogar noch wichtiger, eine globale Infrastruktur aufzubauen, durch die garantiert wird, dass einzelne Staaten einer Gesundheitskrise nicht hilflos ausgeliefert sind.
Monströs ist nicht nur die Pandemie selbst, sondern auch die Reaktion der Regierungen darauf. Hat es etwas Ähnliches schon mal gegeben?
Das ähnelt am ehesten dem, was bei großen Kriegen passiert. Wir wissen, dass wir riesige Mengen an Schutzkleidung brauchen, Desinfektionsmittel, Testkits. Wir müssen antivirale Medikamente entwickeln. All das gleicht den Problemen, vor denen Länder bei Ausbruch eines Krieges stehen. Auf einmal müssen bestimmte Produkte in großem Umfang sehr schnell hergestellt werden.
Auch Politiker vergleichen die aktuelle Lage gerne mit einem Krieg. Ist das angemessen?
Es gibt Elemente, die daran erinnern. In militärischen Konflikten spielen wie jetzt Lieferketten eine sehr wichtige Rolle. Im Zweiten Weltkrieg war die Frage der Lebens- mittelversorgung zentral auch für die militärische Planung. Aber die USA machten sich schon während des Krieges Gedanken darüber, wie es danach weitergehen sollte. Es war völlig klar, dass sich nicht jedes Land selbst versorgen konnte. Man brauchte einen Mechanismus, um zum Beispiel Getreide aus Amerika nach Europa zu bringen. Also wurde dafür ein sehr komplexes System entwickelt. Ähnliches wird auch jetzt nötig sein – vielleicht nicht bei Getreide, aber mit medizinischen Produkten durchaus.
Schlägt demnach jetzt die Stunde des Staates?
Zumindest geschieht es am effektivsten, wenn Regierungen es anordnen. Oder wenn zuweilen sogar Fabriken vom Staat übernommen werden. All das wird jetzt auch ge- schehen. Es wird sogar in ungeheurem Tempo passieren, weil die Produkte schnell gebraucht werden. Man sieht das schon daran, wie schnell zum Beispiel auf einmal neue Krankenhäuser aus dem Boden schießen. In Madrid, New York oder Berlin. Das ist etwas, was Staaten gut können.
Der Staat kümmert sich überall nicht nur um den Kampf gegen das Virus, sondern auch darum, die ökonomischen Folgen zu lindern. Gäbe es dazu eine Alternative?
Es ist klar, dass alles getan werden muss, um diese Krise zumindest abzumildern. Es geht ja auch darum, den Menschen zu helfen, die im Moment gar nicht arbeiten können. Es wird hohe Arbeitslosenraten geben, viel höhere als nach der globalen Finanzkrise. Gerade kleine Unternehmen werden es sehr schwer haben. Restaurants, Cafés, kleine Geschäfte. All das, was europäische Städte so attraktiv macht. Da muss die Politik gegensteuern.
Die Bundesregierung versucht sogar, den Anschein zu erwecken, dass sie diese Krise gewissermaßen wegkaufen kann und niemand wegen Corona seinen Job verliert. Ist das überhaupt möglich?
Ich halte es für unverantwortlich, den Leuten zu versprechen, dass alles wieder so sein wird wie zuvor. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Hotels, der Tourismus, die Luftfahrt wieder einfach wie vorher weitermachen können. Da werden also viele Jobs verloren gehen. Eine Regierung wäre dumm, wenn sie den Leuten Jobs in leeren Hotels garantieren würde. Das wäre wie die staatlichen Subventionen für die Kohle- und Stahlindustrie nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein effizienter Einsatz staatlicher Ressourcen sieht anders aus. Ich glaube ohnehin, dass Regierungen vorsichtig damit sein sollten, langfristige Versprechen abzugeben.
Die Hilfsprogramme verursachen auch beispiellose Kosten. Was lehrt uns die Geschichte, wie Regierungen langfristig mit solchen Kosten umgehen?
Natürlich türmen sich derzeit überall gewaltige Schuldenberge auf, das geht auch gar nicht anders. Was geschieht danach? Nun, es gibt eine Reihe von Erfahrungen dazu. Eine ist, dass es zu hohen Inflationsraten kommen dürfte. Außerdem wird es Schuldenschnitte (James benutzt das deutsche Wort, Anm. d. Red.) geben müssen, wie jene, von denen Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg profitiert hat. Eine internationale Schuldenkonferenz wird sich kaum vermeiden lassen.
Ist eine Corona-Steuer denkbar oder eine Corona-Anleihe?
Sicherlich wird es zu neuen Steuern kommen. Und vermutlich auch zu gemeinsamen Anleihen. Staaten sind da in der Regel sehr kreativ, wenn es um die Finanzierung geht. Ein Teil der Kosten, die für den Kampf gegen die Krise anfallen, wird in die Zukunft verlagert. Für den Privatsektor ist das nicht immer angenehm. In Deutschland wurden für die Reparationszahlungen in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts Abgaben auf Geldanlagedepots und Bankkonten erhoben. Genau das hat Russland übrigens für den Umgang mit den Kosten der Corona-Krise angekündigt.
Wenn der eingreifende Staat jetzt so an Bedeutung gewinnt – stärkt das autokratische Systeme?
Es geht vermutlich nicht so sehr darum, ob wir es mit einer Demokratie oder einer Autokratie zu tun haben. Sondern um die Frage, welche Rechte das Kollektiv hat und welche das Individuum. Darf ein Staat Mobilfunkdaten nutzen, um herauszufinden, mit wem jemand Kontakt hatte? In Südkorea und China ist das geschehen, und das war bei Corona sehr erfolgreich. Europäische Staaten sind davor zurückgeschreckt. Datenschutz wird also ein noch größeres Thema werden.
Wenn die unmittelbare Krise durch die medizinische Bedrohung vorüber ist – wie lange kann es dauern, bis sich die Volkswirtschaften davon erholen?
Natürlich wird es einen sehr starken Einbruch geben. Ich glaube aber, dass durchaus die Chance auf eine relativ rasche Erholung besteht. Eine solche Krise kann auch ungeheure Dynamiken auslösen, sie kann Innovation befördern. Weil neue Lösungen gesucht werden müssen. Jede Art von Krise bietet eine Gelegenheit, etwas daraus zu lernen. Was wir erleben, ist natürlich eine Tragödie. Und es wird kurzfristig große Probleme geben. Aber es wird sehr viel getan werden, um mit künftigen Krisen besser klarzukommen. Und die werden mit Sicherheit kommen.
Das Interview stammt aus der neuen Capital-Printausgabe 05/2020 - jetzt am Kiosk!